Jesus. Oder: Verlorenes Paradies

Jesus wohnt allein und zurueckgezogen in einer Holzhuette unten am Fluss. Es ist der traurigste Jesus, den ich je getroffen habe. Morgens wacht Jesus auf, und ist allein. Er raucht seine erste Zigarette und ruft nach seinen beiden Katzen, denen er das Fruehstueck zubereitet hat. Dann kocht sich Jesus einen Kaffee und raucht drei Zigaretten. Anschliessend streift er durch seinen kleinen Garten Eden und sammelt das Laub ein, das der Wind ueber Nacht von den Blaettern geblasen hat. Die Blaetter verbrennt er in einem kleinen Lagerfeuer am Rande des Gartens. Gegen Mittag legt sich Jesus allein in eine seiner 6 Haengematten und raucht. Sein Garten Eden ist nicht schalldicht, drum dringen die laut knatternden Dieselmotoren der vorbeifahrenden Boote in das kleine Paradies und zerstoeren ein bisschen seiner Vollkommenheit und die Gehoergaenge von Jesus, der sich lediglich ein bisschen Ruhe und ein bisschen Frieden wuenscht. Doch es gibt keine Ruhe mehr und auch keinen Frieden. Reggaetonmusik und das Droehnen der Motorsaegen ueberschallen die traurigen Klagelieder der Paradiesvoegel, und mit jedem Baum, der faellt, wird der Dschungel ein bisschen weniger und loest sich das Paradies ein bisschen mehr auf, und wenn man den Urwald sucht, dann muss man ganz weit laufen, denn er zieht sich immer weiter zurueck, bis er eines Tages nicht mehr weiss, wohin er ausweichen soll, und dann verschwindet er ganz, und es gibt auch kein Paradies mehr. Das macht Jesus ganz furchtbar traurig und verbittert, und drum flucht und keift er, und raucht. Weil der Garten Eden leider auch nicht einbruchsicher ist, rennen kleine Kinder in ihm herum und kacken in seine Buesche, oder pissen vor die Gartenpforte. Oder verlauste Nachbarhunde dringen ein, und fressen den kleinen Katzen das Essen weg. Drum lauert Jesus nachmittags mit einem Spaten in seiner Haengematte, und immer, wenn er ein Geraeusch hoert, springt er auf und jagt zur Pforte, doch er hat bisher noch keinen einzigen kleinen Teufel dingfest machen koennen. Die Kinder aus dem Dorf finden Jesus merkwuerdig, und machen sich einen Spass daraus, an Jesus Tuerglocke zu klingeln, die nur ganz selten bimmelt, weil Jesus nur ganz selten Gaeste hat, und wenn er nach vorne schaut, wer ihn besuchen kommt, dann ist da gar keiner, und so schlurft Jesus langsam zurueck zu seiner Haengematte und raucht allein und streichelt seine Katzen und flucht und wuergt.

 

Doch es war nicht immer so. Auch Jesus war einmal jung, voller Energie, voller Entdeckerdrang, voller Traeume. Und weil die Welt in dem regnerischen Baskenland fuer ihn zu klein und zu eng war, packte er seine sieben Sachen und machte sich auf, die weite Welt zu entdecken. Als er ging, weinte seine Mutter ganz bitterliche Traenen, und flehte ihn an, er moege nicht gehen, aber die Welt rief nach Jesus, und dem Ruf der Welt, das wusste Jesus, dem muss man folgen. Und so stuerzte er sich ins Abenteuer. Jesus radelte auf einem rostigen Fahrrad von Mexiko nach Brasilien und durchquerte dabei 14 Laender. Er marschierte zu Fuss ueber die Anden von Peru nach Bolivien (und kam auch in Ananea vorbei) und paddelte in einem selbst zusammengezimmerten Holzkanu durch den Dschungel Perus den Rio Ucayali-Pachitea herunter. Auf seinen Reisen sah Jesus unglaubliche Dinge. Er sah die unverfaelschte vollkommene Schoenheit der unberuehrten Natur, er sah Armut und Ungerechtigkeit und Zerstoerung. Er sprach mit dem Dschungel und den Fluessen und den Bergen. Er schlief unter den Sternen und lebte mit Indianerstaemmen, die kein Weisser zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Er lernte von Scharmanen, trank Ayahuasca und durchwandelte die Welt der Toten und des Schmerzes. Er durchlebte die kaeltesten Naechte und die heissesten Tage. Er wurde ausgeraubt und von Schlangen gebiessen, ging durch die Hoelle von Malaria und Dengue. Jeder Tag ein Kampf, jeder Tag ein Geschenk, jeder Tag Abenteuer. Jesus lebte von der Hand in den Mund, und er war nicht arm. Er schrieb Buecher und drehte Dokumentarfilme, er machte Radiosendungen und interviewte Mario Vargas Llosa („dieses heuchlerische Stueck Scheisse von Mensch und erbaermliche Niete von Schriftsteller!“) in Zeiten seiner Praesidentschaftskandidatur und solche Dinge.

Seine Mutter weinte viel und bat ihn doch nach Haus zu kommen, doch es gab noch so viel zu sehen und so viel zu entdecken. Und eh er sich`s versah, da waren 20 Jahre vergangen, und immer wieder flehte seine alte Mutter ihn an, er moege doch nach Hause kommen, oder wenn er schon nicht nach Hause kaeme, so moege er doch wenigstens sesshaft werden, und sich ein Haus bauen, damit sie endlich ruhig sein koennte. Und da Jesus spuerte, dass er aelter wurde, und dass er muede wurde, und mit jedem weiteren Schritt, den er tat, spuerte er, dass die rastlose Neugierde seiner Jugend, seine Antriebskraft, sein Benzin, sein Motor, ihre Kraft verlor, und so folgte er eines Tages dem Rat seiner Mutter und baute sich eine kleine Holzhuette in einem kleinen Dorf am Ufer des Flusses Ucayali. Das Haus war umgeben von einem kleinen Garten Eden, ein kleiner hauseigener Regenwald, in dem bunte Blumen bluehten, und Kolibris und Schmetterlinge flogen und Carambola wuchs. Tagsueber streifte er durch den Dschungel und studierte seltene Pflanzen und besuchte seine Freunde in den Indianergemeinden. Jeden Tag sprach er mit dem Fluss und den Fischen und versicherte sich, dass es ihnen gut ging, und abends lag er in seiner Haengematte und lauschte dem Singen der Grillen und der Zykaden und ruhig und gluecklich schlief er ein. Und seine Mutter war endlich ruhig und konnte friedlich sterben. Denn sie konnte nicht in die Zukunft blicken, und wusste zu ihrem Glueck nicht, wie es weitergehen wuerde.

 

Jesus brauchte nicht viel zum Leben, aber doch ein bisschen, um sich ab und zu eine Packung Zigaretten kaufen zu koennen, oder ein paar Eier und aehnliches, um sich ab und zu mal spanische Tortilla zubereiten zu koennen. Deswegen machte er aus seiner kleinen Holzhuette eine kleine Herberge fuer Studenten, die kamen, um in der Gegend seltene Pflanzen und seltene Tiere studieren. Ab und zu kam auch mal ein verirrter Rucksackreisender vorbei, dem gewaehrte er dann natuerlich auch Obdach. Es waren gute Zeiten, er lernte von den Reisenden, die Reisenden lernten von ihm, gemeinsam goennte man sich ab und zu mal ein gutes Flaeschchen spanischen Rotwein, und mit der Zeit legte sich Jesus in seinem kleinen Dschungelnest sogar eine kleine Bibliothek zu, und man lamentierte ueber Literatur und Poesie und nie verschwendete er einen Gedanken an seine alte vergessene Heimat im Baskenland.

 

Doch mit der Zeit kamen immer mehr Menschen in sein Dorf im Dschungel, und das Dorf wuchs und wuchs, und mit der Zeit verwandelten sich die einfachen Holzhuetten am Flussufer in Zementkloetze, und damit noch mehr Menschen noch einfacher kommen konnten, verwandelten sich die roten schmalen Dschungelpfade in graue breite Asphaltstrassen, damit die gebaut werden konnten, mussten viele grosse, alte Baeume sterben. Der Wald weinte leise. Jesus hoerte es, denn er kannte seinen Wald gut, aber die Bauern hoerten es nicht, und die Lastwagenfahrer, und die Holzhaendler, denn sie sprachen eine andere Sprache, die Sprache des Geldes, und wer die Sprache des Geldes spricht, kann die Sprache des Waldes nicht verstehen. Etwas spaeter verstummten die Fische, und wenn Jesus fischen ging, fing er keinen Fisch mehr, dafuer Plastiktueten und Konservendosen. Auch der Fluss wurde leiser, er sprach kaum noch, dafuer groehlten die lauten Dieselmotoren der Motorboote, besonders billig aus China importiert, und besonders laut. Aber zum Glueck hatte Jesus ja noch seinen kleinen Garten Eden, dort hoerte er in seiner Haengematte Musik von Mozart (die er nun etwas lauter stellen musste), unterhielt sich mit seinen Studenten und fuehrte sie zu seinen Freunden in die Indianergemeinden, damit sie voneinander lernen konnten und dorthin, wo der Wald noch lebte und die Pflanzen noch bluehten. Doch die Zivilisation breitete sich im Wald aus, wie ein maechtiges Krebsgeschwuer, und dort wo der Krebs seine Bahnen zieht, dort waechst und blueht und lebt nichts mehr, dort geht alles kaputt. Und dort, wo es Zivilisation gibt, dort gibt es Geld, und wo es Geld gibt, dort gibt es Konsum, und wo es Konsum gibt, dort gibt es Raffgier, und so fand schliesslich auch die Kriminalitaet ihren Weg in das Paradies. Es haeuften sich die Ueberfaelle auf die Studenten, man raubte ihnen ihre Kameras, ihre Mikroskope und ihre Computer, und somit auch ihre ueber Jahre hinweg muehsam zusammengeschriebenen Studien und die Grundlage fuer ihre wissenschaftlichen Arbeiten. Weil es zu gefaehrlich wurde, kamen immer weniger Besucher zu Jesus, und die Indianergemeinden, die das Treiben der Neokolonialisisten mit Skepsis beauegten, distanzierten sich von Jesus, und wenn dieser mit den wenigen der verbliebenen Studenten die Gemeinden aufsuchte, warfen sie ihm vor, er bringe die weissen Eindringlinge in ihre Gebiete, um zu spionieren und ihnen die Kinder zu rauben.

 

Von Jahr zu Jahr wurde Jesus etwas einsamer und etwas verbitterter. Von Jahr zur Jahr rauchte er ein paar Zigaretten mehr pro Tag (die er sich nur leisten konnte, weil sie illegal aus Brasilien durch den Dschungel ueber die Grenze geschmuggelt werden, und somit keine Zoelle anfallen). Von Jahr zur Jahr fluchte er etwas lauter, und von Jahr zu Jahr wurde er auch etwas aelter, und er spuerte wie langsam langsam die Kraft aus seinen Knochen und seiner Seele wich. 30 Jahre waren vergangen, 30 Jahre, in denen Jesus nach seinem Paradies gesucht hatte, und nun musste er sich eingestehen, dass er in diesen 30 Jahren niemals gefunden hat, was er gesucht hat. Vielleicht liegt es daran, dass es auf der Erde kein Paradies gibt.

Dann eines Tages, als er schon laengst die 60 ueberschritten hatte, lag er in seiner Haengematte und erinnerte sich an seine alte Heimat im Baskenland, wo er vor langer langer Zeit einmal Freunde gehabt hatte und Familie und eine glueckliche Jugend, und so packte er seine sieben Sachen, verammelte den Garten Eden, und machte sich nach all den Jahren in der Ferne auf die weite Reise zurueck in die Heimat.

 

Doch als er dort ankam, musste er feststellen, dass auch dort sich die Welt veraendert hatte. Seine alten Freunde hatten ihn laengst vergessen, seine Mutter war tot und von seinen 8 Bruedern lebten nur noch vier. Mit 65 Jahren wollte kein Arbeitgeber ihn mehr anstellen, und ohne Einkommen konnte er sich keine Wohnung leisten, drum lebte er eine Weile auf Pump von seinen verbliebenen Bruedern. Alle um ihn herum waren irgendwie gluecklich, oder zumindest schien es so, zumindest hatten sie eine Familie, und ein Haus, und ein Einkommen, nur Jesus war irgendwie allein und hatte irgendwie nichts. So verstrichen zwei Jahre, in denen Jesus mit schmerzverzerrter Seele feststellen musste, dass das hier, auf das er so viel gesetzt hatte, wo er gehofft hatte, in seines verbleibenden Jahren ein bisschen Frieden und ein bisschen Ruhe zu finden, nicht mehr seine Heimat war und drum flog er zurueck in den Dschungel, wo er ein Haus und einen verlorenen Garten Eden hatte, und auch allein ist und ungluecklich.

 

Jeden Nachmittag besuche ich Jesus fuer ein paar Stunden. Dann haenge ich in einer seiner 6 Haengematten, und wenn Jesus in der Stimmung ist, dann unterhalten wir uns ein bisschen. Ueber Rotwein und Mozart, ueber Trump, Mario Vargas Llosa, ueber Blumen und Gemuese zum Beispiel. Wenn er nicht in der Stimmung ist, schweigen wir, ich lese, Jesus raucht, oder er spricht mit seinen Katzen.

 

 

Heute ist Jesus arm und alt und allein. Abends raucht er seine letzten Zigaretten und fuettert seine beiden Katzen. Dann legt er sich schlafen. Allein. Wenn er am naechsten Morgen aufwacht, macht er das Gleiche, wie am Tag zuvor. Wenn nicht, dann ist es auch nicht so schlimm. Denn letztendlich schert sich keiner mehr so recht darum, was aus Jesus wird.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0